Chancen für alle! Was wir nicht erst seit der Corona-Krise für ein gerechtes Bildungssystem tun müssen

Chancen für alle! Was wir nicht erst seit der Corona-Krise für ein gerechtes Bildungssystem tun müssen

In der Corona-Krise werden gesellschaftliche Probleme wie durch ein Brennglas fokussiert. Aber nicht nur das: Die Corona-Krise verschärft soziale Ungleichheiten und zeigt auf, wie dringend wir Zukunftsinvestitionen in die Bildung und eine bildungspolitische Gerechtigkeitswende brauchen.

Für uns erwächst aus den Beobachtungen der Corona-Zeit der politische Auftrag, die seit Jahrhunderten bestehende und immer noch schmerzlich bemerkbare deutsche Bildungsungerechtigkeit abzubauen. Denn: Deutschland hat bei der Frage der Chancengleichheit im internationalen Vergleich eines der schlechtesten Bildungssysteme. Die soziale Herkunft eines Kindes bestimmt in Deutschland wesentlich dessen Bildungschancen („Bildungstrichter“). Kinder aus nicht-akademischen Haushalten haben deutlich schlechtere Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss. 21 % dieser Kinder nahmen 2016 ein Studium auf, dem stehen 74 % der Kinder aus Akademiker*innenhaushalten gegenüber. Akademiker*innenhaushalte machen aber in der Bevölkerung nur etwa 22 % aus. Wer aus einer wohlhabenden Familie kommt, ist deutlich im Vorteil gegenüber Menschen aus Familien mit geringen finanziellen Ressourcen. Familien mit höheren Einkommen können ihren Kindern leichter finanzielle Unterstützung geben und ihnen somit einen gewissen Freiraum bieten, um früh Talente zu entwickeln und einen besseren Bildungsstart zu haben. In der Folge ist es für sie leichter, einen höheren Abschluss zu erreichen und einen höheren Karriereweg einzuschlagen, wovon deren Kinder wiederum profitieren können. Dass die Vermögensverteilung zwischen Elternhäusern darüber entscheidet, wie Kinder und Jugendliche Begabungen entwickeln können und welche Zukunftschancen ihnen offenstehen, ist ein brisantes Gerechtigkeitsproblem, welches sich in der Corona-Krise verschärft.

Die aufgezeigten Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen vergrößern sich für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, deren Eltern und den Lehrkräften. Bei den nachfolgenden Forderungen sind von daher auch immer Kinder und Jugendliche mit Behinderung einzubeziehen.

 

Viele junge Menschen können sich oft keine Ausbildung leisten, weil diese mit zu hohen Kosten verbunden sind. Wer kann, muss oft von Ersparnissen leben, nebenbei arbeiten oder ist vom Elternhaus finanziell abhängig. Die finanzielle Unterstützung für Ausbildungen ist unzureichend und altersdiskriminierend. Dass aus diesen Gründen zahlreiche Ausbildungsplätze nicht besetzt sind, stellt uns auch gesellschaftlich vor große Probleme: Für die anstehende sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft werden wir alle Kompetenzen, für Theorie und Praxis, brauchen.

Die Corona-Situation war und ist eine radikale Veränderung des Lebensalltags, die oft einhergeht mit einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber Entscheidungen, die von außen über die Köpfe hinweg getroffen wurden. Über Kinder und Jugendliche wurde viel gesprochen, über Auszubildende, Studierende und Lehrende schon weniger. Oft erfuhren alle Beteiligten erst aus den Nachrichten, welche Regeln in den nächsten Tagen gelten werden. Zerrieben im dysfunktionalen Bildungsföderalismus wurde entschieden, nicht-entschieden oder falsch entschieden, eine gemeinsame Bewältigung der Krise fand kaum statt. Auch in Schleswig-Holstein wurden Fehler gemacht. Lehrkräfte, Schüler*innen und Eltern haben durch enormen persönlichen Einsatz vieles kompensiert, sind zum Teil aber auch zurecht von Entscheidungen und unausgegorenen politischen Vorstößen enttäuscht. Es muss eine Aufarbeitung und kritische Reflexion des sozialen und bildungspolitischen Umgangs mit der Pandemie erfolgen, wobei insbesondere die Entscheidungsfindung zu reflektieren ist.

Es ist kaum zu rechtfertigen, dass Schulen, Schüler*innen-, Ausbildungs- und Studierendenvertretungen oft nur Beiwerk bei Entscheidungen sind. Gerechtigkeit hängt auch davon ab, politisch Gehör zu finden und strukturell an politischen Entscheidungen beteiligt zu sein. Unsere plurale Demokratie würde gestärkt, wenn Parlamente und Regierungen ein ausgeglicheneres Generationenverhältnis hätten. Nur 2 % der Abgeordneten des Deutschen Bundestages waren bei ihrer Wahl 2017 jünger als 30 Jahre. 2018 machten die 20- bis 29-Jährigen immerhin 11,8 % der Bevölkerung aus. Dabei sind politische Entscheidungen das Eine, das alltägliche Erleben der Werte und Chancen in der Demokratie das Andere. Wir können auch in Kitas, Schulen und Hochschulen mehr Demokratie wagen, um unsere Demokratie zu festigen und sie von frühen Kindertagen an als positiven Rahmen zu erlernen. Es würde nicht über Köpfe hinweg entschieden, sondern miteinander nach den besten Lösungen gesucht.

 

Bildung braucht Priorität

Wenn wir die bestehenden Ungerechtigkeiten strukturell abbauen wollen und künftig Talente, Genies und Impfstoff-Entdecker*innen auch dann unterstützen und fördern wollen, wenn sie es zuhause nicht leicht haben, wenn wir wirklich niemanden mehr durchs Raster fallen lassen wollen, dann bedeutet das ein deutliches Bekenntnis und entschiedenes Handeln für ein inklusives Bildungssystem, das unabhängig von der finanziellen Ausstattung der Elternhäuser allen die gleichen Chancen bietet. Wir verlieren als ganze Gesellschaft, wenn wir weiter in einem unterfinanzierten Bildungssystem festhängen. Für uns GRÜNE steht fest, dass mehr öffentliche Finanzmittel für das Bildungssystem zur Verfügung gestellt werden müssen. Anders als zum Beispiel in den skandinavischen Ländern sind bei uns Privatschulen verbreitet. Diese sorgen dafür, dass im Schulsystem verschiedene Niveaus von Schulfinanzierungen strukturell etabliert sind. Eine Neustrukturierung dieses Gefälles ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht einfach möglich. Aus diesem Grund muss staatliches Handeln darauf ausgerichtet sein, eine bessere Finanzierung allgemeinbildender Schulen zu erreichen.

Bringt die Corona-Pandemie unweigerlich „verlorene Jahrgänge”? Nein. Denn es gibt sie, die beispielhaften Schulen, Bildungsangebote und vor allem unendlich viele engagierte Menschen, die ihr Bestes geben, um junge Menschen in der Pandemie zu unterstützen und Nachteile von ihnen abzuwenden. Es funktioniert schon im Kleinen und es kann für alle funktionieren. Jetzt gibt es die Chance, vorhandene Umbrüche zu nutzen und das Bildungssystem gerecht zu transformieren. Die Entscheidungen, die wir heute fällen, sind richtungsweisend für den zukünftigen Wohlstand aber auch den Weg unserer Gesellschaftsordnung. Jetzt können wir zeigen, dass wir den weitreichenden Corona-Folgen begegnen und die Strukturen sozialer Ungerechtigkeit mit politischer Entschlossenheit bekämpfen wollen.

Deshalb: Priorität für Bildung!

Dafür brauchen wir:

  1. Einen neuen gesellschaftlichen Konsens! Finanzielle Ressourcen in immensem Umfang müssen in das Bildungssystem verlagert werden und dabei dem Ziel von mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit entsprechend eingesetzt werden. Mehr Betreuer*innen, Erzieher*innen und Lehrende für kleinere Gruppen, soziale und pädagogische Unterstützung, hochwertige Ganztagsangebote und niedrigschwellige Anlaufstellen für Schwierigkeiten aller Art. Moderne Gebäude, technische und digitale Ausstattung, die besten Lernmittel um zeitgemäßes Lernen zu ermöglichen. Eine bessere Kooperation zwischen Bund, Ländern und auch Kommunen, denn ein ganzheitlicher Bildungsanspruch braucht Beiträge aller Ebenen. Finanzielle Zugangshürden und insbesondere Gebühren im Bildungsbereich müssen wir abbauen, da sie soziale Ungerechtigkeiten weiter verstärken. Die Bildungsetats von Bund und Ländern müssen dafür deutlich steigen. Während Deutschland 2017 4,2% des Bruttoinlandsprodukts für Bildung ausgab, waren es im Durchschnitt der OECD 4,9% und beim Spitzenreiter Norwegen 6,6%. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf.
  2. Den konsequenten Abbau finanzieller Bildungshürden. Es wäre eine massive Erleichterung, wenn finanzielle Anforderungen, wie Kosten für Schulbücher und Lernmaterialien, Kosten für den Transport zur Schule, Gebühren für soziale Ausbildungen, Studienverwaltungsgebühren, Gebühren oder fehlende Vergütung für die Teilnahme an Studieneingangstests und/oder Sprachtests abgeschafft würden. Mit kostenlosen Weiterbildungen wird es für Menschen leichter, (wieder) zu lernen, egal in welcher Lebenslage sie sich gerade befinden. Ein Bildungsbudget für jede*n Bürger*in kann dafür ein neues Instrument sein, welches den Menschen neue Türen öffnet und sie selbst über weitere Bildungswege entscheiden lässt.
  3. Bildungsbrücken bauen! Ein umfassendes Betreuungsangebot, erweiterte Ganztagsbetreuung mit hochwertigen Angeboten, unterstützt durch Bildungslots*innen oder -pat*innen und Tutor*innen in Schulen, Hochschulen und kostenlose Summer Schools wirken unmittelbar und beugen weiteren Entwicklungsproblemen vor. Das Engagement der Lehrer*innen wird unterstützt durch multiprofessionelle Teams, die ihre Fähigkeiten in speziellen Bereichen wie der Sprachförderung, Inklusion, Digitalisierung- oder Berufsorientierung einbringen. Bei Ferienkursen könnten neue soziale Kontakte geknüpft, Freizeit erlebt und freiwillig Wissenslücken geschlossen werden. Die Eingangsphase an Hochschulen kann nach dieser schweren Zeit für ein „0. Semester“ genutzt werden, um Wissenslücken zu schließen, Orientierung zu geben und spätere Studienabbrüche verringern. Diese Möglichkeiten bieten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Chance, sich bestmöglich zu entwickeln, eigene Talente zu entdecken und dabei gezielt gefördert zu werden. Damit ein Studium besser mit Kinderbetreuung, Beruf oder Wohnort vereinbar wird, setzen wir uns für mehr digitale Lehrangebote an den Hochschulen des Landes ein. Für das alles benötigen wir einen bundesweiten Bildungsrettungsfonds.
  4. Ausbau der psychologischen Erstanlaufstellen insbesondere für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene! Das psychotherapeutische und psychosoziale Angebot muss überall erweitert werden, sodass auch diejenigen wieder Halt finden, denen diese Krise so schwer zu schaffen macht. Für die Erziehungsberatungsstellen mit ihrem niedrigschwelligen und zumeist systemischen und entwicklungspsychologischen Angebot braucht es im Sozialministerium dringend eine*n Ansprechpartner*in, um eine landesweite Verfügbarkeit auf hohem fachlichen Niveau zu unterstützen. Der Ausbau der psychologischen Therapieangebote ist dringend notwendig, da die Versorgung in diesem medizinischen Bereich schon vor der Pandemie dramatisch unterentwickelt war und nun noch mehr unter Druck stehen wird. Eine kurzfristige deutliche Steigerung der Kassenzulassungen von Therapeut*innen ist geboten.
  5. Eine umfassende Reform der Bildungsfinanzierung! Es muss allen Menschen– egal aus welchem Elternhaus – ermöglicht werden, ein Studium oder eine Ausbildung zu absolvieren. Ohne Altersgrenzen, losgelöst vom Elternhaus und als Zuschuss statt als Kreditlast wäre all denjenigen die Angst vor finanziellen Problemen genommen, die ohne eigenes Vermögen neue Bildungswege gehen wollen. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie würde dies nicht nur Existenzängste abmildern, sondern neue Chancen für die gesellschaftliche Entwicklung eröffnen.
  6. Demokratie von klein an erleben! Demokratie zum Mitmachen darf es nicht erst ab dem 16. oder 18. Geburtstag bei Parlamentswahlen geben. Kitas, Schulen und Hochschulen sollten zu neuen Räumen des demokratischen Miteinanders werden, in denen Kita-Kindern, Schüler*innen, Auszubildenden und Studierenden mehr demokratische Instrumente zustehen. Das festigt nicht nur die Demokratie an sich, sondern stärkt auch das Miteinander und die Legitimierung von Entscheidungen.
  7. Ein Investitionsprogramm für Bildungsorte! Um erfolgreich lernen, lehren und arbeiten zu können, muss moderne Ausstattung – digital und analog – vorhanden sein, also Leihgeräte, Bücher, flächendeckendes WLAN usw. Sanierungsmaßnahmen und ansprechende Neubauten können Schulen und Hochschulen ein neues Lernklima ermöglichen, sie zu Wohlfühl-, Kreativ- und Erlebnisorten, zu Orten der Chancen machen.
  8. Eine Personaloffensive für Kitas, Schulen und Hochschulen, um jedem Menschen die nötige Aufmerksamkeit auf seinem Lernweg zu geben und die Qualität in Forschung und Lehre hoch zu halten. Dieses Personal muss auch durch gute Gehälter, faire und kontinuierliche Arbeitsbedingungen genau die Wertschätzung erfahren, die diese anspruchsvollen Berufe längst verdient haben. Dazu gehört auch, Ausbildungen weiter zu professionalisieren, von Ausbildungsgebühren zu befreien und zu vergüten.
  9. Eine kritische Weiterentwicklung der Prüfungskultur an Schulen und Hochschulen! Freiheiten zum Lernen sollen sein und nicht durch massenhafte Prüfungen eingeschränkt werden. Prüfungen an Schulen und Hochschulen müssen viel kritischer und nach ihrem Ziel der Kompetenzorientierung hinterfragt sowie Prüfungsmodalitäten entbürokratisiert werden, damit Leistungsdruck reduziert wird. Ziel sollte auch eine frühe Vermittlung eines Grundverständnisses von Wissenschaftlichkeit sein. Frei denken, Fehler machen dürfen und experimentieren, auch ohne unmittelbaren Verwertungsdruck, ist eine Notwendigkeit um Kreativität und gesellschaftliche Innovationen zu ermöglichen.
  10. Eine ganzheitliche Herangehensweise an Bildung! Schon heute gibt es Schulen, an denen mehr Mitarbeiter*innen der Schulträger und der Jugendhilfe arbeiten als Lehrkräfte. Schulsozialarbeit, Schulische Assistenz, Schulbegleitung, generell eine bessere Kooperation von Jugendhilfe und Schule können viel beitragen wenn wir Bildung ganzheitlich denken. Kinder und Jugendliche sind nicht nur Schüler*innen. Sie lernen am besten, wenn es ihnen gut geht, bei hohem körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefinden. Wir Grüne haben in Schleswig-Holstein die Familienzentren vorangetrieben, um Familien besser zu erreichen und zu untersützen, nun gilt es aber auch Schulen systematisch für Unterstützungsangebote zu öffnen, die es zumeist ja schon gibt. Mit regelmäßigen Fallforen an Schulen, die durch Sozialpädagog*innen unterstützt werden, psychologischen Sprechstunden an Schulen durch Fachkräfte aus der Erziehungsberatung, Elternbildungsangeboten an Schulen und vielem weiteren gibt es viele gute Beispiele für ganzheitliche Bildungsansätze in unserem Land. Diese wollen wir unterstützen vernetzen und ausbauen.
  11. Es braucht inklusive Kitas, Schulen, Hochschulen und Verwaltungen! Unsere Gesellschaft braucht als Basis ein inklusives Bildungssystem, das sich von Kita, über die Schule, in die berufliche Bildung, die Hochschulen und die Erwachsenenbildung erstreckt. Grüne Bildungspolitik steht für Chancengerechtigkeit, Vielfalt, Kooperation, Wertschätzung und Multiprofessionalität. Alle Menschen sollen das Lernen können, was ihnen ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben ermöglicht. Dafür braucht es personelle und strukturelle Unterstützung in den Bildungseinrichtungen sowie ausreichend Systemzeit für multiprofessionelle Teamarbeit und individuelle Lernangebote. Wir verfolgen das Ziel einer inklusiven Gesellschaft, die sich durch Kooperation statt durch Konkurrenz definiert und in der wir uns solidarisch füreinander einsetzen – unabhängig von den individuellen Voraussetzungen einer Person. Daher entwickeln wir ein inklusives Bildungssystem weiter, das Vielfalt als Chance anerkennt, und stehen für eine Bildungspolitik, die eine inklusive Gesellschaft fördert. Bildungsangebote und -einrichtungen müssen daher – nicht nur baulich – barrierefrei zugänglich sein. Die Verwaltungen und das gesamte pädagogische Personal müssen außerdem stärker darin geschult werden, die gesellschaftliche Vielfalt in ihren Entscheidungs- und Planungsprozessen zu berücksichtigen und inklusives Denken und Handeln in ihren (Arbeits-)Alltag zu integrieren.

 

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